Haben oder Sein. Segmentieren – aber richtig.
Juni ist Eventgroßmonat.
Habe die Ehre! Ich wusste nicht, wieviele Veranstaltungen es rund um Marketing hierzulande gibt. Jetzt weiß ich es. Eine Unmenge – drei in der vorletzten Juniwoche alleine in Wien. Es scheint, als wolle man dem potentiellen Besucher neben dem normalen Arbeitsstress vor der Urlaubszeit auch noch den einen oder anderen Event mit Gewalt auf’s ohnehin schon müde Auge drücken. Ob das gescheit ist? Wer soll das alles besuchen? Andererseits, Sommer ist nicht nur Urlaubszeit sondern meistens auch Budgetzeit. Vielleicht mag man sich den budgetverantwortlichen Marketingleitern vor der Planung ja noch in Erinerung rufen, bevor die raren Mittel verplant werden. Interessanterweise habe ich, als ich noch nicht selbständig war, kaum eine der Veranstaltungen besucht. Grund? Keine Zeit und keine Info.
Haben
Jetzt habe ich zwar noch weniger Zeit als früher, kann Sie mir aber besser einteilen. Ich beschloss also, am 16. Juni zur Wirtschaftuniversität Wien zu stapfen um mir in der dortigen WU Executive Academy eine Veranstaltung des Verbandes der Marktforscher Österreichs (VMÖ) zum Thema Segmentierung anzusehen. Endlich was Strategisches! Einen kurzen Rückblick zum Event gibt es auf der Seite des Verbandes.
Der einleitende Vortrag kommt von Uni Prof. Scharitzer; der war seinerzeit (also vor 20 Jahren) Universitätsassistent am Marketinginstitut und ich habe bei ihm ein Seminar über „multivariate“ Analysemethoden abgelegt (ich wollte bereits „abgelehnt“ schreiben. Eine Freud’sche Fehlleistung?). Die Inhalte seiner Präsentation gibt es hier. Wichtigste Aussage: Marktforschung respektive Segmentierung wird immer wichtiger und damit auch die Rolle des (internen wie externen) Marktforschers.
Den Satz kann ich vollinhaltlich unterschreiben, mit folgender Ergänzung. Warum wird diese Rolle nicht gelebt? Antwort: Weil Marketing und damit auch Marktforschung nach wie mit Werbung gleichgesetzt wird. Und Werbung bedeutet nach landläufiger Meinung, als Unternehmen lustige Spots, bunte Broschüren und unterhaltsame Events zu „haben„. Das ist eben nur ein Aspekt von Marketing, der operative, bestenfalls der taktische. Davor kommt Marktforschung, Segmentierung und Positionierung. Für Marketing braucht es „Marktpsychologen„. An den Schalthebeln der Unternehmen sitzen aber oft Techniker, Finanzer, Juristen etc. und installieren für die bunten Bildchen halt dann irgendwen.
Christian (Eigenzitat: „Ich bin hier fehl am Platz“) Reuer von Prorecon präsentiert Österreichische Lebenswelten 3.0. Eine klassische Segmentierung (Alter, Schulbildung, Besitz usw.) basierend auf Fragebogeninterviews und Mediennutzungsverhalten (Zeitungen!!). Äh, war da nicht was in den letzten 20 Jahren? Internet? Blogs? Soziale Netze? Als Resultat der Befragungen ergeben sich Segmente wie „Distanziert-digitale Jugend“, „Mobil-engagierte Bildungselite“ oder „Zurückgezogene Senioren“. Nicht mein Ding, ist mir zu allgemein. Aber als erste Orientierung brauchbar.
Integral Geschäftsführer Betram Barth stellt die allseits beliebten „Sinusmilieus“ vor. Auch hier definiert man vorab feste Segmente (in Österreich deren zehn), die man auf Basis von „Lebensweltinterviews“, teilnehmender Beobachtung etc. festzumachen versucht. Auf einer zweidimensionalen Matrix lassen sich einerseits Grundhaltungen bzw. Werte, auf der anderen Seite eine Zuordnung nach sozialen Schichten (Milieus) abbilden. So ergeben sich unterschiedliche Gruppen (Segmente) „Gleichgesinnter“. Vorteil bei dieser Methode? Es sind Werte im Spiel. Mit Sinusmilieus habe ich nie gearbeitet, auch die waren mir zu unflexibel. Wobei das oben gesagte gilt, besser irgendeine halbwegs vernünftige Segmentierung als gar keine.
Sein
Was ist allen Märkten gemein“, fragen Christian Bosch und Stefan Schiel, ihres Zeichen Geschäftsführer von Market Mind. Ihre etwas provokante Antort, „Nichts!“. Na bitte, wir kommen der Sache schon näher. 😉 Ihr Ansatz ist es, branchen-, ja kundenindividuell zu segmentieren. Zuerst werden Kundendaten des Auftraggebers erhoben, dann Ähnlichkeiten in diesen Profilen gesucht, dann segmentiert. Motto also, „zeig mir was Du tust und ich sage Dir, wer Du bist.“ Hey, so hab ich das auch gemacht! Mal schauen was ist und dann versuchen, Mustern zu erkennen. Eine grobe Kundentypologie hatte ich dabei allerdings immer im Kopf (dazu später). Leider wird nicht verraten, ob es so eine Typologie bei Market Mind gibt oder ich habe es schlicht vergessen. Präsentation dazu gibt es leider keine, ich kann also nicht nachlesen.
Nächster und letzter Präsentator ist Florian Bauer, Vorstand von vocatus. Er bringt es auf den Punkt, „Menschen handeln selten rational … das herkömmliche Marketing geht aber immer von einem rationalen Kundenverhalten aus.“ So weit, so gut, so bekannt. Bauer meint, wir müssen den Kunden anhand der Art segmentieren, wie er seine Entscheidungen trifft. Und die sind einerseits eben irrational und zum Zweiten kontextabhängig. Was heißt das? Der Kunde an der Tankstelle kann zugleich Sparmeister beim Betanken seines Vehikels sein, aber auch Hedonist beim Kauf von Snacks und Kaffee im Tankstellenshop sowie zugleich „fürsorglicher“ Autobesitzer, wenn er das Premium Motoröl ersteht. Bauer ist Psychologe und Verhaltensökonom, das erklärt auch den Ansatz (ein verhaltensökonomisches Beispiel zum Thema Pricing gibt es auch hier). Bauer unterteilt Kunden grundsätzlich in fünf Typen (nachzulesen hier) und jeder Kunde ist immer alles. Er findet sich also nicht in einer Schublade sondern in vielen, je nachdem was er eben gerade kauft.
Ich gestehe, die Ansätze von Market Mind und vocatus halte ich für die interessantesten. Märkte und Kundentypen haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend ausdifferenziert und sind schwieriger zu bearbeiten denn je. Umso wichtiger ist eine treffsichere Segmentierung (und Positionierung). Wagen wir es dem irrationalen Kunden in die Augen zu sehen.
Haben oder Sein
Es geht also mehr um Sein (Persönlichkeit, Charakter, Neigungen) als um Haben (Einkommen, Status, Schulbildung, Alter). Was war eigentlich meine oben erwähnte Richtschnur beim Segmentieren? Es war Everett Roggers‘ Diffusion of Innovations. 50 Jahre alt ist dieses Buch jetzt und doch ist es – mit Einschränkungen – noch immer gültig. Wie sagte Karl Popper so schön? „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ Haben oder Sein ist übrigens auch der Titel eines ebenso lesenswerten Buches. Und von Sherlock Holmes gibt es ein sehr brauchbares Remake im neuen Gewand.
Fazit der Veranstaltung: Wer Altes und Neues fundiert hören und sehen wollte, war bei den Marktforschern des VMÖ im Juni genau richtig. Keine Show, kein Blabla. Hach, gäb’s doch mehr davon. 😉
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A Night at the Opera – Ein Positionierungsversuch (1) | ExCentric
[…] anfangen konnten (Stichwort: Schwellenängste). Und da die Jungen (um eine ganz, ganz primitive Segmentierung vorzunehmen) nicht über das nötige Kleingeld verfügen, um „große Oper“ mit […]